Guten Morgen und kommt gut durch den Montag
Zuletzt hier: 13.02.2023Mitglied seit: 17.06.2014Geburtstag: 20.2.1997 (27)
Blog-Einträge von Kevin1997
Kommentare:
20.12.2014 - 15:37 h
Herbstsonate, eine lustige Geschichte oder auch nicht ... (Geschichte/Dezember)
Erzähl eine lustige Geschichte zur Wende, zum Herbst des Jahres1989 sagst du. Das war am
Anfang aber nicht lustig. Ein paar Monate, bevor wir auf der Straße waren, gab es im
kommunistischen China ein Massaker mit über 2500 Toten auf dem Platz des himmlischen
Friedens! Sie starben, weil sie auf diesem Platz für Menschenrechte eintraten. Und wie viele danach in den Zuchthäusern, bei Verhören oder durch Hinrichtungen umkamen, wissen nur die Akten des chinesischen Geheimdienstes. Kurz danach war eine chinesische Delegation in der ehemaligen DDR auf Staatsbesuch. 2500 Tote in China und eine Regierungsdelegation von dort ist bei Honecker zu Gast. Na hallo, da wusste man doch genau, wie die zu Demokratie und Öffnung stehen. Außerdem war das die Zeit, als die Massen fluchten aus der DDR über Ungarn in die Bundesrepublik erfolgten! Und die Botschaften der BRD in verschiedenen Ostblockstaaten von DDR-Bürgern besetzt wurden, um schneller eine Ausreise zu erlangen. Plötzlich war jeder betroffen und hatte Freunde oder Verwandte hinter den Eisernen Vorhang verloren! Und der Eiserne Vorhang, der war für immer gemeint!
Obwohl seit 1985 Gorbatschow den großen Bruder Sowjetunion regierte und dort ein Anfang von
Demokratie möglich wurde! Glasnost und Perestroika nannte sich das. Doch je mehr dort
zugelassen wurde, umso enger wurde es im SED-Staat. Plötzlich gab es sogar Verbote von
sowjetischen Zeitschriften! Die Führungsriege der DDR verbot den Blick in die Sowjetunion, der
vor Gorbatschow Staatsdoktrin war.
Aber reden wir weiter von 89. Im Frühherbst 89 tauchte die erste Petitionen vom noch illegalen
Neuen Forum auf. Ich war zu dieser Zeit Techniker und mit einer Jazzband unterwegs. Bei jeder Mugge, in jedem noch so kleinen Klub wurden wir gewarnt, nichts vom Neuen Forum zu verlesen.
Offiziell hat es keine Petitionen gegeben, es gab ja auch kein Neues Forum, aber jeder warnte uns davor, drohte sogar mit Spielverbot. Ein bisschen wie des Kaisers neue Kleider, sagte ich damals zu den Jungs, und dann wurde es kreativ, irgendeiner sagte: Wir müssen der FDJ mal Ehrentauchen in einer Kläranlage vorschlagen! Mit solchem oder ähnlich derbem Humor überbrückten wir damals
die Repressionen eines von alten Männern geführten Staates. Aber dennoch gab es im Sommer 89 in Leipzig sogar ein illegales Straßenmusikfestival. Es wurde durch die Polizei aufgelöst.
Ich kannte den Veranstalter, er gab mir im Vorfeld kleine Flyer mit, „wirf die mal ein bisschen in Halle herum“, sagte er. Ich hatte einen im Eingang zum „neuen Theater“ mit Duosan Rapid angeklebt, das Ding klebte tagelang dort. Die anderen habe ich im Studentenklub Turm oder in der Gosenschenke fallen lassen.
Der Sommer ging seinem Ende entgegen und schwenkte in den Herbst. Irgendetwas lag in der Luft!
Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass etwas geschehen wird. Die Ausreisewelle in den Westen riss nicht ab und es ging auf den vierzigsten Jahrestag der DDR zu. Gorbatschow hatte sich zum Tag der Republik am 7. Oktober in Berlin angesagt. Er war in der DDR inzwischen zum Sinnbild von Öffnung und Demokratisierung geworden. „Gorbi, Gorbi“, riefen die Massen in Berlin. Aber sie wurden von der Staatsmacht abgedrängt. Es kam dabei zu Übergriffen von Staatssicherheit und Polizei. Gorbatschow prägte an diesem Tag seinen berühmten Satz: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Die ganze Republik hatte diesen Satz verstanden, außer Honecker!
In Leipzig ist es seit Mitte Oktober, nach den Friedensgebeten in der Nikolai Kirche, schon zu
friedlichen Demonstrationen gekommen. Am 7. Oktober ist es in Halle durch Menschenansammlungen in der Nähe der Marktkirche zu Zusammenstößen mit den Staatsorganen gekommen. In diesem Zusammenhang kam es auch zu Verhaftungen. Damals wurde jede
Gruppierung beargwöhnt und als potentiell gefährlich eingestuft. Gefährlich waren aber nur sie selber, denn sie trugen Waffen. Jede Absprache zwischen uns funktionierte damals über das gemeine Telefon und wurde dann von Mund zu Mund weitergetragen. Buschfunk nannten wir das 2 Peter Winzer damals! Computernetzwerke hat es nicht gegeben. Trotzdem überschlugen sich ab jetzt die
Ereignisse. In Halle versammelten wir uns am 9. Oktober in der Marktkirche. Gewaltlosigkeit war
dabei unser aller oberstes Gebot. Keine Provokationen gegen die Staatsmacht, denn die wartete nur auf einen Anlass. Ich weiß nicht, wie viele Leute wir damals waren, aber die Kirche war voll. Und ich weiß noch, wir waren uns alle nicht fremd. Ich kannte sehr viele vom Sehen.
Ich erinnere mich noch genau, der 9. Oktober 1989 war ein kühler, grauer Tag. Irgendwie war
dieses Wetter das Sinnbild der von mir empfundenen Stimmung im Land. Ich stand vor der Kirche, rauchte und sah, was sich weiter vorn am Markt zusammenbraute. Der Weg zum Markt wurde von Dreierreihen Polizei blockiert! Der zum Hallmarkt auch! „Eingekesselt“, dachte ich und warf meine Zigarette weg. Inzwischen versammelte sich ein Großteil von Halles Pfarrern vor der Kirche. An der Ecke zum Markt sah ich einen Pfarrer mit den Polizisten reden! Plötzlich wurde er umgerissen und rief um Hilfe. Spontan rannten alle Pfarrer mit geschürzten Talaren nach vorn, während ich
meinen Schlüsselbund umklammerte. Plötzlich empfand ich Hass! Aber so schnell, wie der Spuk
angefangen hatte, war er zum Glück wieder vorbei. Ich ging nach vorn. „Bleib lieber hier“, sagte eine zur Kirche zurückkehrende Pastorin. Ich drehte um, musste aber plötzlich lachen, weil ich die dämlichen Gesichter der Bullen sah. Was müssen die gedacht haben, als die schwarz Bekittelten Popen auf die zu gestürmt kamen? Einige Zeit später kam es zwischen Polizei und Kirchenvertreten
zu Absprachen. Wir durften dann, nein mussten über die Treppen zum Hallmarkt die Kirche
verlassen. Der Markt wurde uns verboten! Beim Weggehen sah ich die Gummiknüppel der
Polizisten, das waren keine „normalen“, die waren länger und um einiges dicker als die mir
bekannten.
Uns lies die Polizei an diesem Tag in Ruhe abziehen, aber danach fegte sie über den Markt! Leute, die sich auf dem Markt aufhielten, wurden von Polizei und Stasi in Straßenbahnen gestoßen. Das betraf auch Bürger, die nichts mit der Demo zu tun hatten, sondern nur nach Hause wollten und dabei den Markt überqueren mussten. Es kam zu Verhaftungen! Die Opfer wurden Polizeirevieren zugeführt und mussten dort teilweise stundenlang in der so genannten „Fliegerposition“ verharren.
Das heißt, mit Händen über dem Kopf und dem Gesicht zur Wand stehen. Noch in dieser Nacht und am folgenden Tag, trafen sich Vertreter der gerade entstehenden Bürgerbewegung und einige
Gemeindepfarrer. Man einigte sich darauf, in der Georgengemeinde eine Mahnwache zu
organisieren. Einen Tag später arbeitete sie schon. Hier liefen viele Nachrichten zusammen. Wie war die Lage in anderen Städten? Gab es erneut Verhaftungen? Oder gibt es vielleicht positive Signale von Seiten des Staates und dergleichen? Und es gab dort das rund um die Uhr besetzte Bürgertelefon. Am zweiten Tag der Mahnwache schlich ein Soldat aus der Kaserne in der Damaschkestraße über ein paar Umwege zu uns herein und sagte: „Bei uns in der Truppe steht es halbe halbe.“ Und das schloss die Variante China immer noch nicht aus.
Die erste Woche verlief sehr ungewiss! Aber der Mahnwachen-Besatzung wurde eine Unmenge an
Solidarität entgegengebracht. Vorbei fahrende Autos hupten. Vorbei gehende Bürger winkten und
riefen haltet durch. Ein Kleintransporter der Konsumbäckerei brachte jeden Morgen um 6 Uhr
frische Brötchen. Kerzen wurden gestiftet und viele fragten nach, wo sie spenden können.
Solidarität war unter der Bevölkerung in diesen Tagen ein sehr dominantes Gefühl. Am folgenden
Wochenende gab es ein Gespräch in der Pauluskirche. Vertreter der Bürgerbewegung und Kirche planten die erste, echte Demonstration für den folgenden Montag. Fünftausend Menschen
versammelten sich an diesem Tag auf dem Markt. Und erstmals waren auch Transparente mit
Forderungen nach Meinungs-, Presse- und Reisefreiheit dabei. Aber es ging dabei um einen eigenen Weg, um Reformationen hier im Lande. Dann begann der Marsch den Boulevard hinauf und über den Hansering. Viele Bürger trugen gelbe Schärpen mit der Aufschrift „keine Gewalt“, andere trugen Kerzen und schützten die Flammen mit der anderen Hand vor dem Wind. Es war unglaublich, Halle hatte plötzlich wieder eine Stimme bekommen! Doch das war erst der Anfang.
Bei der nächsten Demo waren ca. fünfzehntausend Hallenser unterwegs. Umweltdaten, Meinungs-,
3 Peter Winzer
Presse- und Reisefreiheit wurden gefordert. Demonstration vier war der Hammer, ganz Halle schien auf den Beinen zu sein!
Die Straßenbahnen blieben stehen, Leute stiegen aus und reihten sich ein. Ich rannte nach vorn,
stieg auf die Fußgängerbrücke, welche vorm damaligen „Thälmannplatz“ die Straße nach Halle-
Neustadt überspannte. Massen über Massen quollen die Straße hinauf. Die Demonstrationsspitze war am Interhotel vorbei, und war vorm ehemaligen SED Gebäude, im Volksmund „Café Böhme“ genannt, angekommen und forderte in Sprechchören Halles Parteichef Böhme und seine Genossen zum Dialog auf. Als ich das sah und hörte, liefen mir die Tränen. Ich war glücklich, irgendwie war
spätestens jetzt klar, es kann keine chinesische Variante mehr geben, die ganze Welt schaute auf uns, die kleine DDR, mit einer Diktatur, deren Funktionäre plötzlich bereit waren, sich selbst die Augen auszukratzen. Honecker und Stasichef Mielke wurden durch ihre eigene Partei abgesetzt und Egon Krenz übernahm die Staatsgeschäfte. Sein größtes Fiasko folgte kurz danach. Er wurde auf der größten Demonstration der DDR-Geschichte am 4. November auf dem Alex in Berlin von Millionen Menschen ausgepfiffen. Kurz darauf war auch er Geschichte. Doch auch bei dieser riesigen Demonstration ging es um einen eigenen Weg, um Reformationen innerhalb der DDR.
Aber nun noch ein bisschen Herbst in Halle: Ich rannte nach vorn. Vor dem Parteigebäude stand
eine uniformierte Riege Herren der DDR Kampfgruppen und sicherte den Eingang des „Café
Böhme“. Am Straßenrand war ein Polizeimotorrad geparkt, auf dessen Sitzbank Kerzen brannten.
Der Polizist stand einige Meter weg und sah zu. Und das Schönste war, niemand von den
Demonstranten pöbelte herum oder provozierte die zahlenmäßig weit unterlegenen Ordnungshüter.
Es war eine unglaublich optimistische Stimmung in diesen Tagen, die ihren Höhepunkt am 9.
November mit dem Fall der Mauer und dem Abbau der Staatsgrenzen fand.
Die Demonstrationen gingen danach weiter, aber Johannes R. Bechers Satz: Deutschland einig
Vaterland mischte sich als neuer Ton in die Demos und wurde bald zum bestimmenden Sound.
Die DDR und die in den letzten Wochen entstandenen Ideen verblassten und begannen allmählich Geschichte zu werden.
Das war die Geschichte im Monat Dezember,
euer Kevin1997
Erzähl eine lustige Geschichte zur Wende, zum Herbst des Jahres1989 sagst du. Das war am
Anfang aber nicht lustig. Ein paar Monate, bevor wir auf der Straße waren, gab es im
kommunistischen China ein Massaker mit über 2500 Toten auf dem Platz des himmlischen
Friedens! Sie starben, weil sie auf diesem Platz für Menschenrechte eintraten. Und wie viele danach in den Zuchthäusern, bei Verhören oder durch Hinrichtungen umkamen, wissen nur die Akten des chinesischen Geheimdienstes. Kurz danach war eine chinesische Delegation in der ehemaligen DDR auf Staatsbesuch. 2500 Tote in China und eine Regierungsdelegation von dort ist bei Honecker zu Gast. Na hallo, da wusste man doch genau, wie die zu Demokratie und Öffnung stehen. Außerdem war das die Zeit, als die Massen fluchten aus der DDR über Ungarn in die Bundesrepublik erfolgten! Und die Botschaften der BRD in verschiedenen Ostblockstaaten von DDR-Bürgern besetzt wurden, um schneller eine Ausreise zu erlangen. Plötzlich war jeder betroffen und hatte Freunde oder Verwandte hinter den Eisernen Vorhang verloren! Und der Eiserne Vorhang, der war für immer gemeint!
Obwohl seit 1985 Gorbatschow den großen Bruder Sowjetunion regierte und dort ein Anfang von
Demokratie möglich wurde! Glasnost und Perestroika nannte sich das. Doch je mehr dort
zugelassen wurde, umso enger wurde es im SED-Staat. Plötzlich gab es sogar Verbote von
sowjetischen Zeitschriften! Die Führungsriege der DDR verbot den Blick in die Sowjetunion, der
vor Gorbatschow Staatsdoktrin war.
Aber reden wir weiter von 89. Im Frühherbst 89 tauchte die erste Petitionen vom noch illegalen
Neuen Forum auf. Ich war zu dieser Zeit Techniker und mit einer Jazzband unterwegs. Bei jeder Mugge, in jedem noch so kleinen Klub wurden wir gewarnt, nichts vom Neuen Forum zu verlesen.
Offiziell hat es keine Petitionen gegeben, es gab ja auch kein Neues Forum, aber jeder warnte uns davor, drohte sogar mit Spielverbot. Ein bisschen wie des Kaisers neue Kleider, sagte ich damals zu den Jungs, und dann wurde es kreativ, irgendeiner sagte: Wir müssen der FDJ mal Ehrentauchen in einer Kläranlage vorschlagen! Mit solchem oder ähnlich derbem Humor überbrückten wir damals
die Repressionen eines von alten Männern geführten Staates. Aber dennoch gab es im Sommer 89 in Leipzig sogar ein illegales Straßenmusikfestival. Es wurde durch die Polizei aufgelöst.
Ich kannte den Veranstalter, er gab mir im Vorfeld kleine Flyer mit, „wirf die mal ein bisschen in Halle herum“, sagte er. Ich hatte einen im Eingang zum „neuen Theater“ mit Duosan Rapid angeklebt, das Ding klebte tagelang dort. Die anderen habe ich im Studentenklub Turm oder in der Gosenschenke fallen lassen.
Der Sommer ging seinem Ende entgegen und schwenkte in den Herbst. Irgendetwas lag in der Luft!
Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass etwas geschehen wird. Die Ausreisewelle in den Westen riss nicht ab und es ging auf den vierzigsten Jahrestag der DDR zu. Gorbatschow hatte sich zum Tag der Republik am 7. Oktober in Berlin angesagt. Er war in der DDR inzwischen zum Sinnbild von Öffnung und Demokratisierung geworden. „Gorbi, Gorbi“, riefen die Massen in Berlin. Aber sie wurden von der Staatsmacht abgedrängt. Es kam dabei zu Übergriffen von Staatssicherheit und Polizei. Gorbatschow prägte an diesem Tag seinen berühmten Satz: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Die ganze Republik hatte diesen Satz verstanden, außer Honecker!
In Leipzig ist es seit Mitte Oktober, nach den Friedensgebeten in der Nikolai Kirche, schon zu
friedlichen Demonstrationen gekommen. Am 7. Oktober ist es in Halle durch Menschenansammlungen in der Nähe der Marktkirche zu Zusammenstößen mit den Staatsorganen gekommen. In diesem Zusammenhang kam es auch zu Verhaftungen. Damals wurde jede
Gruppierung beargwöhnt und als potentiell gefährlich eingestuft. Gefährlich waren aber nur sie selber, denn sie trugen Waffen. Jede Absprache zwischen uns funktionierte damals über das gemeine Telefon und wurde dann von Mund zu Mund weitergetragen. Buschfunk nannten wir das 2 Peter Winzer damals! Computernetzwerke hat es nicht gegeben. Trotzdem überschlugen sich ab jetzt die
Ereignisse. In Halle versammelten wir uns am 9. Oktober in der Marktkirche. Gewaltlosigkeit war
dabei unser aller oberstes Gebot. Keine Provokationen gegen die Staatsmacht, denn die wartete nur auf einen Anlass. Ich weiß nicht, wie viele Leute wir damals waren, aber die Kirche war voll. Und ich weiß noch, wir waren uns alle nicht fremd. Ich kannte sehr viele vom Sehen.
Ich erinnere mich noch genau, der 9. Oktober 1989 war ein kühler, grauer Tag. Irgendwie war
dieses Wetter das Sinnbild der von mir empfundenen Stimmung im Land. Ich stand vor der Kirche, rauchte und sah, was sich weiter vorn am Markt zusammenbraute. Der Weg zum Markt wurde von Dreierreihen Polizei blockiert! Der zum Hallmarkt auch! „Eingekesselt“, dachte ich und warf meine Zigarette weg. Inzwischen versammelte sich ein Großteil von Halles Pfarrern vor der Kirche. An der Ecke zum Markt sah ich einen Pfarrer mit den Polizisten reden! Plötzlich wurde er umgerissen und rief um Hilfe. Spontan rannten alle Pfarrer mit geschürzten Talaren nach vorn, während ich
meinen Schlüsselbund umklammerte. Plötzlich empfand ich Hass! Aber so schnell, wie der Spuk
angefangen hatte, war er zum Glück wieder vorbei. Ich ging nach vorn. „Bleib lieber hier“, sagte eine zur Kirche zurückkehrende Pastorin. Ich drehte um, musste aber plötzlich lachen, weil ich die dämlichen Gesichter der Bullen sah. Was müssen die gedacht haben, als die schwarz Bekittelten Popen auf die zu gestürmt kamen? Einige Zeit später kam es zwischen Polizei und Kirchenvertreten
zu Absprachen. Wir durften dann, nein mussten über die Treppen zum Hallmarkt die Kirche
verlassen. Der Markt wurde uns verboten! Beim Weggehen sah ich die Gummiknüppel der
Polizisten, das waren keine „normalen“, die waren länger und um einiges dicker als die mir
bekannten.
Uns lies die Polizei an diesem Tag in Ruhe abziehen, aber danach fegte sie über den Markt! Leute, die sich auf dem Markt aufhielten, wurden von Polizei und Stasi in Straßenbahnen gestoßen. Das betraf auch Bürger, die nichts mit der Demo zu tun hatten, sondern nur nach Hause wollten und dabei den Markt überqueren mussten. Es kam zu Verhaftungen! Die Opfer wurden Polizeirevieren zugeführt und mussten dort teilweise stundenlang in der so genannten „Fliegerposition“ verharren.
Das heißt, mit Händen über dem Kopf und dem Gesicht zur Wand stehen. Noch in dieser Nacht und am folgenden Tag, trafen sich Vertreter der gerade entstehenden Bürgerbewegung und einige
Gemeindepfarrer. Man einigte sich darauf, in der Georgengemeinde eine Mahnwache zu
organisieren. Einen Tag später arbeitete sie schon. Hier liefen viele Nachrichten zusammen. Wie war die Lage in anderen Städten? Gab es erneut Verhaftungen? Oder gibt es vielleicht positive Signale von Seiten des Staates und dergleichen? Und es gab dort das rund um die Uhr besetzte Bürgertelefon. Am zweiten Tag der Mahnwache schlich ein Soldat aus der Kaserne in der Damaschkestraße über ein paar Umwege zu uns herein und sagte: „Bei uns in der Truppe steht es halbe halbe.“ Und das schloss die Variante China immer noch nicht aus.
Die erste Woche verlief sehr ungewiss! Aber der Mahnwachen-Besatzung wurde eine Unmenge an
Solidarität entgegengebracht. Vorbei fahrende Autos hupten. Vorbei gehende Bürger winkten und
riefen haltet durch. Ein Kleintransporter der Konsumbäckerei brachte jeden Morgen um 6 Uhr
frische Brötchen. Kerzen wurden gestiftet und viele fragten nach, wo sie spenden können.
Solidarität war unter der Bevölkerung in diesen Tagen ein sehr dominantes Gefühl. Am folgenden
Wochenende gab es ein Gespräch in der Pauluskirche. Vertreter der Bürgerbewegung und Kirche planten die erste, echte Demonstration für den folgenden Montag. Fünftausend Menschen
versammelten sich an diesem Tag auf dem Markt. Und erstmals waren auch Transparente mit
Forderungen nach Meinungs-, Presse- und Reisefreiheit dabei. Aber es ging dabei um einen eigenen Weg, um Reformationen hier im Lande. Dann begann der Marsch den Boulevard hinauf und über den Hansering. Viele Bürger trugen gelbe Schärpen mit der Aufschrift „keine Gewalt“, andere trugen Kerzen und schützten die Flammen mit der anderen Hand vor dem Wind. Es war unglaublich, Halle hatte plötzlich wieder eine Stimme bekommen! Doch das war erst der Anfang.
Bei der nächsten Demo waren ca. fünfzehntausend Hallenser unterwegs. Umweltdaten, Meinungs-,
3 Peter Winzer
Presse- und Reisefreiheit wurden gefordert. Demonstration vier war der Hammer, ganz Halle schien auf den Beinen zu sein!
Die Straßenbahnen blieben stehen, Leute stiegen aus und reihten sich ein. Ich rannte nach vorn,
stieg auf die Fußgängerbrücke, welche vorm damaligen „Thälmannplatz“ die Straße nach Halle-
Neustadt überspannte. Massen über Massen quollen die Straße hinauf. Die Demonstrationsspitze war am Interhotel vorbei, und war vorm ehemaligen SED Gebäude, im Volksmund „Café Böhme“ genannt, angekommen und forderte in Sprechchören Halles Parteichef Böhme und seine Genossen zum Dialog auf. Als ich das sah und hörte, liefen mir die Tränen. Ich war glücklich, irgendwie war
spätestens jetzt klar, es kann keine chinesische Variante mehr geben, die ganze Welt schaute auf uns, die kleine DDR, mit einer Diktatur, deren Funktionäre plötzlich bereit waren, sich selbst die Augen auszukratzen. Honecker und Stasichef Mielke wurden durch ihre eigene Partei abgesetzt und Egon Krenz übernahm die Staatsgeschäfte. Sein größtes Fiasko folgte kurz danach. Er wurde auf der größten Demonstration der DDR-Geschichte am 4. November auf dem Alex in Berlin von Millionen Menschen ausgepfiffen. Kurz darauf war auch er Geschichte. Doch auch bei dieser riesigen Demonstration ging es um einen eigenen Weg, um Reformationen innerhalb der DDR.
Aber nun noch ein bisschen Herbst in Halle: Ich rannte nach vorn. Vor dem Parteigebäude stand
eine uniformierte Riege Herren der DDR Kampfgruppen und sicherte den Eingang des „Café
Böhme“. Am Straßenrand war ein Polizeimotorrad geparkt, auf dessen Sitzbank Kerzen brannten.
Der Polizist stand einige Meter weg und sah zu. Und das Schönste war, niemand von den
Demonstranten pöbelte herum oder provozierte die zahlenmäßig weit unterlegenen Ordnungshüter.
Es war eine unglaublich optimistische Stimmung in diesen Tagen, die ihren Höhepunkt am 9.
November mit dem Fall der Mauer und dem Abbau der Staatsgrenzen fand.
Die Demonstrationen gingen danach weiter, aber Johannes R. Bechers Satz: Deutschland einig
Vaterland mischte sich als neuer Ton in die Demos und wurde bald zum bestimmenden Sound.
Die DDR und die in den letzten Wochen entstandenen Ideen verblassten und begannen allmählich Geschichte zu werden.
Das war die Geschichte im Monat Dezember,
euer Kevin1997
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